Gespensterfische
Roman von Svealena Kutschke
Erscheint am 27. Februar 2025
Wirklichkeit ist nur eine Vereinbarung. Dieser Satz lässt Laura Schmidt viele Jahre nicht los. Es ist das Motto ihrer Mitpatientin Noll, die Laura in den 1990ern in der Lübecker Jannsen-Klinik kennenlernte. Dort hat sich Noll in der psychiatrischen Abteilung mit ihrer Vertrauten Olga Rehfeld lesend, schreibend, zitierend ein Refugium aus Geschichten geschaffen, einen Raum aus Literatur – zum Trost oder als Flucht vor den Abgründen der Vergangenheit? Laura begreift allmählich, dass die Klinik, in der sie selbst Hilfe gefunden hat, für Rehfeld zerstörerisch war.
Svealena Kutschke erzählt mit einem faszinierenden Figurenensemble aus Patient:innen und medizinischem Personal von der Psychiatrie als Ort, an dem tiefe Verwundbarkeit das Menschsein an seine Grenzen führt. Als Ort, der insbesondere während der NS- und Nachkriegszeit zum Einfallstor für Gewalt geworden ist. Als Echokammer deutscher Geschichte. Medizinische Diagnosen, führt Kutschke uns vor Augen, sagen viel über die Gesellschaft aus, in der sie gestellt werden. Und sie fragt danach, ob nicht der psychische Ausnahmezustand eine angemessene Reaktion auf die Zumutungen der Gesellschaft ist. Ein Roman, der wie ein Gespensterfisch in der Tiefsee Licht in die Dunkelheit bringt.
“Die Konturen eines Raumes konnten durch Routinen geschärft werden, stellte Laura fest. Wirklichkeit war nur eine Vereinbarung. Aber es war möglich, das zu vergessen, wenn man den vorgegebenen Abläufen folgte. Die Visite am Morgen, das Frühstück, die Schlange vor dem Schwesternzimmer, Lukas, der die Zigaretten und Feuerzeuge herausgab und dann mit in den Garten ging. Die unerwartet süße Erfahrung, über sich bestimmen zu lassen. Der überraschende Trost der geteilten Räume.
Als die dünnen Fäden zur Wirklichkeit rissen, war es Lauras größte Sorge gewesen, dass die Verrücktheit der anderen alles noch schlimmer machen würde. Es stellte sich heraus: Kaum etwas war beruhigender, als zum Beispiel neben Rehfeld im Gemeinschaftsraum zu sitzen, das kratzende Geräusch ihres Kugelschreibers, Rehfelds eigenartige Prosa: es könnte Schlaf sein, wenn dich niemand dabei sieht. Das leise Schmatzen, das die Medikamente Rehfeld unter die Zunge gelegt hatten. War nicht ein Körper bei Weitem zu viel für einen Menschen?”
“Die Beziehung zu Sophia hatte Freda immer als eine liebevolle Bindung verstanden, sie hatte nicht gesehen, dass Sophia sich auf sie eingestimmt hatte. Eine Stimmgabe, die auf der Frequenz der anderen schwang, ohne eine eigene überhaupt zu entwickeln.”
Svealena Kutschke
Gespensterfische
ISBN 978 3 89561 363 0
Verlag Schöffling & Co
Erscheint am 27. Februar 2025
224 Seiten