Bis wir Wald werden

»Das Bleiben. Das Gehen.
Ununterscheidbar, wo es beginnt, wo es endet.«

Ein Hochhaus am Waldrand ist das Zuhause von Nanush und ihrer Urgroßmutter Babulya. Einst hat die Urgroßmutter ihre Urenkelin von Sibirien nach Deutschland getragen, nun deckt Nanush die alte Frau abends mit einer Steppdecke zu. Voller Wärme und Poesie erzählt Birgit Mattausch von einem unzertrennlichen Familienband und einer ganz besonderen Hausgemeinschaft.

Wenn Babulya sagt, sie seien aus dem Frühling gekommen, weiß Nanush, dass ihre Urgroßmutter nicht nur sie beide damit meint, sondern alle Bewohner*innen des Hauses: Oma Elsa, die weder Hochdeutsch noch Russisch spricht, Felek, die aus Kurdistan geflüchtet ist, Vitali, der sich von seinem Hund beschützen lässt, oder Gregorij, der weiß, wie man Sonnenblumenkerne im Mund schält. Jahrelang war Babulyas Küche der Mittelpunkt all ihrer Geschichten, mit den Tomatenpflänzchen am Fenster und dem Salbei an der Decke. Doch nun ist Babulya so alt, dass sie kaum noch ihr Bett verlässt. Was bedeutet es für die Hausgemeinschaft und was bedeutet es für Nanush, wenn die Hüterin ihrer Erinnerungen eines Tages nicht mehr da ist? Ein Familienroman, der bildstark vom Wurzelnschlagen auf betoniertem Terrain erzählt.


“Unter Babulyas Bett wohnen mittlerweile die Bären.
Sagt sie.
Aber wie passen sie da drunter, Babulya? Überleg doch mal. So ein Bär ist doch viel zu groß.
Du glaubst mir nicht, Kätzchen.
Doch. Ich glaube Euch doch. Was machen die Bären?
Sie sind da.
Wollen sie Honig?
Das ist eine gute Idee, meine Kleine.

Und wir stellen ein Glas Honig unters Bett. Die Fransen der Satindecke reichen bis auf den Boden. Man sieht das Glas nicht. Und zum Glück kann ich Babulya auch davon überzeugen, dass die Bären den Deckel abschrauben können. Ein offenes Honigglas würde die Ameisen anziehen. Wie auch immer sie es bis in den dritten Stock schaffen. Aber sie tun es.
Mir reichen Bären, ich brauche nicht noch Ameisen, sage ich zu Vitali.
Mir reichen Bären. Ich brauche nicht noch Soldaten, denke ich. Ich brauche nicht noch Kohlegruben. Zementstaub. Hungernde Kinder. Tote Kinder. Ich brauche nicht noch Hitler, Stalin, Chruschtschow, Fascisti. Die blaue Partei. Babulyas Weinen, das kein Ende finden würde, das ahne ich.
Ich brauche Mome und ich brauche Großmoder, aber die werden nicht kommen, und ich werde Babulya nicht fragen, ob sie sie auch gesehen hat.
Am besten, ich stelle noch mehr Honiggläser unter ihr Bett. Solange dort Bären sind, ist kein Platz für anderes.”

- Birgit Mattausch, BIS WIR WALD WERDEN


Birgit Mattausch
BIS WIR WALD WERDEN

Verlag Nagel und Kimche
176 Seiten
ISBN 9783312013791

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Es währt für immer und dann ist es vorbei