Autobiographie des Todes
“Gedichte schreiben heißt Geisterstimmen hören.”
- Kim Hyesoon
von Kim Hyesoon
übersetzt von: Uljana Wolf, Sool Park
Kim Hyesoons Virtuosität liegt in ihrer Fähigkeit, einzigartige poetische, überraschende und doch zugängliche Bilder zu schaffen und sich gleichzeitig tief in der weiblichen Erfahrung und Erzähltradition zu verwurzeln.
»Autobiographie des Todes« besteht aus neunundvierzig Gedichten, jedes steht für einen einzelnen Tag, an dem der Geist nach dem Tod umherwandert, bevor er in den Kreislauf der Reinkarnation eintritt. Die Gedichte geben nicht nur denjenigen eine Stimme, die während der gewaltsamen Zeitgeschichte Koreas einen ungerechten Tod fanden, sondern setzen sich auch zu einem Mosaik des individuellen Schmerzes und der Meditation zusammen. Sie werden zu einer ungehörten, seltsam fesselnden Echokammer unkonventioneller Stimmen, die nahe rücken, zu einem Gelächter werden, zu einem Ort der Trauer, des Trostes und des Lebens.
Mit Zeichnungen von Fi Jae Lee
Tag 1
Auf dem Weg zur Arbeit
In der U-Bahn verdrehen sich deine Augen weiß. Das ist deine Ewigkeit.
Eine ewige Ewigkeit aus Weiß.
Man hat dich aus der U-Bahn geworfen. Es scheint, du stirbst jetzt.
Obwohl du stirbst, denkst du etwas. Obwohl du stirbst, hörst du etwas.
Gott was ist mit der los? Menschen. An dir vorbei.
Du bist lappiger Abfall. Müll, man schaut weg.
Der Zug fährt ab und ein alter Mann nähert sich dir.
Er schiebt seine schwarzen Fingernägel in deine Hose.
Wenig später zerrt man deine Handtasche weg.
Zwei Schüler kommen, wühlen in deiner Hosentasche.
Tritte. Das Klicken einer Kamera.
Dein Sterbebild ruht jetzt in den Handys der Jungs.
Wie alle Toten vor dir siehst du das ganze Panorama vor dir aufgehen
Dein nach außen gewandter Blick wandert in die Weite, in dich hinein.
Kim Hyesoon
Kim Hyesoon
Autobiographie des Todes
Fischer Verlag
149 Seiten
ISBN 978-3-10-397684-7