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Die Neinstimme von Altaussee

L E S U N G :
Mag. Wolfgang Martin Roth

“Die Neinstimme von Altaussee”

Altaussee erfreut sich als Luftkurort bei in- und ausländischen Touristen großer Beliebtheit – reizvoll am Fuße des Losers gelegen, für so manche aber beunruhigend mit seiner vom Toten Gebirge begrenzten Kessellage. Auch das Salzbergwerk, die größte Salzabbaustätte Österreichs, ist nicht nur ein prestigeträchtiger Ort, sondern mit einer anrüchigen Vergangenheit belastet: war es doch das größte Kunstdepot für NS-Raubkunst aus ganz Europa.

Vor dieser Kulisse »am Ende der Welt« setzt Wolfgang Martin Roth seine Erzählung in Gang. Der Ich-Erzähler bezieht kurz nach seiner Pensionierung gemeinsam mit seiner Frau Karin in Altaussee ein Haus, das ihr durch eine Erbschaft zugefallen ist. Karin
beginnt sich mit der Geschichte des Ortes zu beschäftigen und weckt nach anfänglicher Abwehr mit einer Bemerkung doch das Interesse ihres Mannes. Bei der Volksabstimmung zum »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich am 10. April 1938 gab es in Altaussee eine einzige Neinstimme, die der Volksgemeinschaft einen Strich durch ihre 100-Prozent-Rechnung machte: Maria Haim, eine junge Frau, hatte offensichtlich eine eigene Auf fassung darüber, »was sie ihrem Volk, was sie ihrer Überzeugung schuldig war«.

Der Ich-Erzähler erinnert sich schlagartig, dass er dieser »Neinstimme« vor vielen Jahren, als er als Junge mit seinen Eltern hier auf Urlaub war, einmal bei einem Spaziergang begegnet war. Jetzt lässt ihm die Geschichte einer bemerkenswerten Zivilcourage nicht mehr los. Er beginnt zu recherchieren, besucht in Wien die Nationalbibliothek, sichtet Zeitungen von damals, »sogar die Steirische Alpenpost hatte es damals schon gegeben«. In der Parteichronik der NSDAP von Altaussee findet er folgende Eintragung: »Wie die Nachforschungen ergaben, wurde diese eine Neinstimme zum größten Verdruß der ganzen Gemeinde von einer schwachsinnigen Bauerndirne abgegeben, die damit in das schöne Abstimmungsergebnis einen nicht
mehr gut zu machenden Schönheitsfehler brachte.«

Er macht sich auf die Suche nach Personen, die Maria Haim noch persönlich gekannt haben, und erfährt, »sie sei etwas verschlossen und eigen gewesen. Eine unscheinbare Person. Vor allem sei sie sehr katholisch gewesen.« – Dieser Frau hat Wolfgang Martin Roth hat mit seiner Erzählung »Die Neinstimme von Altaussee« ein literarisches Denkmal gesetzt. Am 29. Januar 2017 hätte Maria Haim ihren 100. Geburtstag gefeiert.


Über den Autor:

Wolfgang Martin Roth, geb. 1946, lebt als Schriftsteller, Psychotherapeut und Gruppenanalytiker in Wien und Fréjus, Südfrankreich. Aufgewachsen in Göttingen, 1963-65 Emory & Henry College in Virginia, Studium der ev. Theologie, Philosophie und Christlichen Archäologie in Heidelberg, Göttingen und Rom. 

Arbeit in freier Praxis als psychoanalytischer Psychotherapeut (WPV aff.), Gruppenanalytiker (GASI, London) und Supervisor. Lehr-Gruppenanalytiker in Österreich, Deutschland und der Ukraine. Gründungs- und Mit-Herausgeber des Österreichischen Jahrbuchs für Gruppenanalyse 2007-2015.

Neben zahlreichen Fachpublikationen in Gruppenanalyse veröffentlichte der ehemalige ev. Pfarrer aus Wiesbaden den Gedichtband In der Nähe ihres Ringfingers. Pariser Fragmente, Löcker Verlag, Wien, 2022 sowie den Roman Die Schuhe der Väter, Löcker Verlag, Wien, 2023. Im Herbst 2024 erscheint im gleichen Verlag der Roman Der Deutsche von Flug 111.

Mehrere seiner Hörspiele wurden im ORF, Deutschlandfunk und WDR gesendet, 2008 wurde er mit dem 1. Preis der Zonser Hörspieltage ausgezeichnet. Er ist Mitgründer des PEN Berlin und war von 2015-2020 Beauftragter für Writers-in-Prison beim Österreichischen PEN.

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